Verkehrsplanung aus der Hölle: Neugestaltung Kritzmannstraße

Im Zuge der neuen Straßenbahnlinie (zweite Nord-Süd-Verbindung), muss die Kritzmannstraße aufgrund der Straßenbahnschienen und Haltestellen komplett neu gestaltet werden. Was dabei allerdings herausgekommen ist, kann nur als Verachtung der Stadtverwaltung gegenüber allen Radfahrern interpretiert werden.
In der Theorie klingt es erstmal gut: eine neue, sauber asphaltierte Straße. Gut, für einen Radweg hat es nicht gereicht. Aber immerhin für einen Teil der Fahrbahn in Form eines Radschutzstreifens. Dabei könnte man allgemein bereits kritisieren, dass bei einer kompletten Neugestaltung des Verkehrsraums kein geschützter Radweg o.ä. eingeplant wurde. Hier würde die Stadtverwaltung der Stadt Magdeburg jedoch sicher erklären, dass es keinen Rechtsanspruch auf einen Radweg gibt. Denn wenn das Recht mit ihren Interessen übereinstimmt, nimmt man es dort sehr genau.
Der Radschutzstreifen: Mit Augenzudrücken 1,25m
Also nehmen wir es auch mal genau und messen nach. Denn in Sachsen-Anhalt sind die "Empfehlungen für Radverkehrsanlagen" mit Stand von 2010 (ERA2010) verpflichtend für Neubau und wesentliche Änderungen von Straßen.
Die Regelbreite für Radschutzstreifen beträgt 1,5m, jedoch kann man in verkehrsarmen Bereichen mit wenigen zu erwartenden Konflikten bis auf eine Mindestbreite von 1,25m runtergehen.
Wenn man nachmisst, kommt man, wenn man die asphaltierte Fahrbahn betrachtet, nur auf 1,10m. Nimmt man den grau gepflasterten Straßenrand dazu, kommt man immerhin auf etwa 1,40m. Hier wurden also die Minima gerade so eingehalten.

Spurbreite 2m
Allerdings ist die Spur für den Kfz-Verkehr daneben gerade einmal 2,05m breit:

Und hier beginnen die Probleme: ein Golf 8 ist mit Außenspiegeln bereits 207,3cm breit, würde also - selbst bei perfekt gefahrener Linie - nur noch 1,22m (rechnen wir das Pflaster ein 1,52m) übrig. Damit ist klar: das Überholen von Radfahrern ist hier definitiv überhaupt nicht möglich. Also: rein rechtlich.
Da Radschutzstreifen nicht bei Tempo 30 angeordnet werden dürfen (§45 Absatz 1c StVO), ist der Kfz-Verkehr hier offiziell wohl mit Tempo 50 unterwegs.
Anmerkung vom 31.05.2023: Die Anordnung ist nur in Tempo-30-Zonen nicht gestattet.
Das Problem: solange ein Fahrzeug irgendwie noch vorbeipassen könnte, überholen viele Autofahrer trotzdem, egal, ob die 1,5m Seitenabstand eingehalten werden können oder nicht. Und das wird hier passieren, massenhaft, da auf der Gesamtlänge mehrerer hundert Meter kein Autofahrer überholen könnte. Diese Geduld bringen erfahrungsgemäß die Wenigsten auf.
Womit wir auch bei der grundlegenden Frage wäre:
Warum überhaupt ein Radschutzstreifen?
Diese Frage sollte für jeden, der sich die Gestaltung ansieht, offensichtlich sein. Denn ein Radschutzstreifen soll nur im Ausnahmefall durch den Kfz-Verkehr genutzt werden (VwV-StVO zu § 2 Absatz 4 Satz 2) - das Beispiel des Golf 8 zeigt aber, dass sich faktisch jedes Fahrzeug bereits auf dem Radschutzstreifen bewegen wird.
Und die Frage, wozu ein Radschutzstreifen überhaupt angeordnet wird, wenn das Überholen grundsätzlich ausgeschlossen ist, muss auch gestellt werden: wozu ein "Schonraum" für Radfahrer, wenn er faktisch eine exklusive Nutzung durch die Radfahrer (sofern sie dort sind) darstellt?
Die optische Abtrennung wird eher noch mehr Autofahrer ermutigen, dort zu überholen, da der Radfahrer ja "auf einer anderen Spur" fährt. Viele Autofahrer wissen zudem nicht, dass auch bei Radschutzstreifen nur mit 1,5m Abstand überholt werden darf.
Der Radschutzstreifen macht das Radfahren auf der Strecke damit gefährlicher, nicht sicherer.
Interessanterweise gibt es auf der Gegenfahrbahn (noch) keinen Radschutzstreifen - hier kommt man aber insgesamt auf noch 15cm weniger Fahrbahnbreite (Pflaster eingerechnet):

2,05m Spurbreite: Wer bietet weniger?
Wer dachte, dass 2,05m Spurbreite schon wenig sind, wird aber natürlich nicht enttäuscht: da geht noch was.
Direkt hinter der - wie ich annehme - zukünftigen Straßenbahnhaltestelle, wird es noch enger - und das auch noch in einer Kurve, der kein Kfz perfekt folgen können wird:

Weitere Highlights: Unfallschwerpunkt mit Ansage
Als wenn die Planung bisher nicht schon sinnfrei genug wäre, kommt nun schon fast Boshaftigkeit dazu: vor der Kreuzung hört der Radschutzstreifen auf, um wenige Meter später in der Mitte wieder anzufangen (allerdings nur für Linksabbieger).

Das ist absurd auf ganz vielen Ebenen:
- Als Radfahrer kreuzt man plötzlich den Kfz-Verkehr, um links abzubiegen - genau an der Stelle, an der es erstmals breit genug wäre zum Überholen. D.h. Autofahrer werden genau dort zum Überholen ansetzen (wenn sie es bis dahin ausgehalten haben), wo die Radfahrer nach links ziehen. Was kann da schon schief gehen?
- Auf 1,85 Breite passt kein modernes Kfz. Punkt. Wozu dann überhaupt der Radschutzstreifen? Was ist seine Funktion? Außer Autofahrern zu helfen, sich zu verschätzen bei der Breite der Fahrbahn?
- Und warum gibt es dann, wenn die sich überschneidenden Radschutzstreifen so toll sind, keinen für die Radfahrer, die geradeaus fahren wollen oder rechts abbiegen?
Man stelle sich kurz folgende Situation vor:
- Auf der Rechtsabbiegerspur steht ein LKW, üblicherweise wird die Höchstbreite von 2,55m bei diesen ausgenutzt. Die Spur links ist also komplett belegt.
- Ein Radfahrer fährt auf den tollen Radschutzstreifen.
- Ein Autofahrer kommt, will auch links abbiegen, und sieht: oh, da ist noch eine Spur. Und hält neben dem Radfahrer.
Selbst unter Idealbedingungen hat der Radfahrer nach links und rechts keine 20cm mehr Platz. Sichere Radinfrastruktur sieht anders aus.
Ist das nun rechtens?
Das ist die einzig relevante Frage für die Stadtverwaltung, denn der Sinn von Radinfrastruktur spielt dort meist keine Rolle. Für den Radschutzstreifen gibt es zwei Aspekte: die Mindestbreite der Fahrbahn und die Mindestbreite des Radschutzstreifens selbst.
Ist die Fahrbahn breit genug?
Die Frage ist, was sie zur Fahrbahn rechnen.
- Gehört der gepflasterte Teil dazu? (Die Verwaltung wird sicher sagen: "ja", und das sind links etwa 20cm)
- Gehört die Markierung des Radschutzstreifens noch zur Fahrbahn? Wenn sie hälftig angerechnet würde, kämen noch einmal 6cm dazu (gemäß ERA 2010 ist die Markierung 12cm breit).
An der Stelle auf Höhe der Straßenbahnhaltestelle wären die Werte an der Stelle knapp unterschritten, denn mit Pflaster und halber Markierung ergeben sich 0,2m + 1,95m + 0,06m. Und damit fehlen hier 4cm.
Das klingt zwar pingelig, und man könnte natürlich den Radschutzstreifen noch 10cm nach links verschieben, aber...
- Reitet die Verwaltung selbst auf Paragraphen rum, wenn es darum geht, Anliegen abzulehen, auch wenn sie offiziell Spielraum hätte.
- Wir reden hier über Mindestbreiten, die schon sehr, sehr knapp bemessen sind und für "Engstellen" gelten. Die gesamte Fahrbahn über hunderte Meter als "Engstelle" zu definieren, wäre schon eher eine kreative Interpretation.
Die ERA 2010 scheint außerdem meist von zwei Spuren (je eine in beide Richtungen) auszugehen, die es dem Kfz-Verkehr ermöglichen würde, über die Nutzung der Gegenfahrbahn den notwendigen Abstand zum Überholen einzuhalten. Das ist aber in diesem Szenario nicht gegeben, da die Spuren baulich durch die Straßenbahn getrennt sind.
Ist der Radschutzstreifen breit genug?
Oben wurde bereits erwähnt, dass der Radschutzstreifen (schöngerechnet) 1,4m breit ist, also weniger als die empfohlenen 1,5m (vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e. V. werden sogar mindestens 1,85m empfohlen) aber mehr als die Mindestbreite von 1,25m.
Dann ist es eindeutig zulässig. Oder doch nicht? Denn weniger als 1,5m sind nur an "Engstellen" zulässig oder in Ausnahmefällen, wenn nicht genug Platz vorhanden ist. Letzteres könnte man hier geltend machen, ist aber mindestens peinlich für einen kompletten Neubau. Die Arbeitgemeinschaft fahrradfreundlicher Kommunen Baden-Württemberg empfiehlt 1,25m nur in "verkehrsarmen Straßen mit wenig Konflikten im Seitemraum". Da Straßenbahnstrecken üblicherweise nicht auf Verbindungen mit besonders wenig Verkehrsaufkommen gebaut werden, lässt sich das doch deutlich infrage stellen.
Was nun?
Teilweise dürfte der Radschutzstreifen sogar rechtswidrig sein, auf jeden Fall ist diese Infrastruktur, selbst wenn man sie rechtskonform gestaltet, extrem gefährlich.
Aber man soll ja nicht nur meckern, sondern auch Lösungsvorschläge unterbreiten.
"Lösung" 1 (Mindestanforderung)
Sollte die Verkehrsführung so beibehalten werden, müssen mindestens Zweirad-Überholverbotsschilder (sowohl als Schild als auch in regelmäßigen Abständen als Piktogramm auf der Fahrbahn) die Autofahrer auf die Tatsache hinweisen, dass ein Überholen nicht möglich ist. Zudem muss das Überholverbot regelmäßig durch die Polizei kontrolliert werden. Für den Kreuzungsbereich sollte das besonders bekräftigt werden. Dennoch ist das die schlechteste und immernoch gefährlichste aller Lösungen.
Lösung 2: Überholverbot und Tempo 30 ohne Radschutzstreifen
Lösung 1, nur dass der Radfahrstreifen komplett abgeschafft und Tempo 30 angeordnet wird. Mit dem Gefahrenpotential und Platzmangel sollten nicht nur schlechte Radschutzstreifen, sondern auch Tempo 30 angeordnet werden können. Da auch in regelmäßigen Abständen Fußgänger die Haltestellen betreten und insgesamt wenig Platz vorhanden ist, sollte das rechtlich hier begründbar sein. Zudem befinden sich in den Seitenstraßen eine Kita sowie zwei Spielplätze.
Lösung 3: Fahrradstraße
Eine Fahrradstraße hätte faktisch die gleiche Wirkung wie die bisherige Lösung (nur mit Tempo 30), sofern sich der Kfz-Verkehr an das Überholverbot hält. Ob das möglich wäre, hängt vom Urteil ab, das man heranzieht. Gemäß VG Berlin (VG Berlin, Urteil vom 05.12.2018 – 11 K 298.17) wäre es definitiv möglich, laut VG Hannover reicht die Breite als Argument nicht aus. Hier wäre aber folgender Abschnitt aus dem Urteil relevant:
Wenn die Einhaltung der Gebote und Verbote einer Fahrradstraße auf einem bestimmten Streckenabschnitt mit den allgemeinen und besonderen Verhaltensregeln der Straßenverkehrs-Ordnung nicht erreicht werden können, ist eine Fahrradstraße erforderlich.
- VG Hannover, Urteil vom 13.08.2021 – 7 A 5667/19
Man könnte gut argumentieren, dass das Überholverbot anders nicht sinnvoll durchzusetzen sein wird. Beide Urteile könnte man also vermutlich zur Begründung heranziehen - wenn man denn wollte.
Und dahingehend lässt die bisherige Planung eher das Gegenteil vermuten.
Ergänzung 29. Mai 2023, 22:38 Uhr:
Dieser Beitrag soll bitte nicht als Autofahrer-Bashing gesehen werden, auch wenn durch das Einhalten der Regeln das Problem natürlich nicht bestünde. Allerdings ist es absolut menschlich, von einer "normalen" Spurbreite statt von diesem Unsinn hier auszugehen und sich damit zu verschätzen (Menschen sind unfassbar schlecht darin, Abstände zu schätzen). Dass es Schöneres gibt, als 500m hinter einem Radfahrer mit 15km/h hinterherzufahren, obwohl man 50km/h fahren könnte, ist irgendwo verständlich (rechtfertig das Verhalten aber nicht!).
Es geht darum, dass Infrastruktur aus menschlichen Fehlern keine Gefahren werden lassen sollte, sofern möglich.